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Paradiesgarten mit Freiform-Holztragwerk in Cambridge

Die neue Cambridge Moschee, entworfen von Marks Barfield Architects aus London, weckt in ihrem Innenraum Assoziationen an einen Paradiesgarten – mit ornamentalen Baumstützen, deren Astwerk sich zu einem tragenden und schirmenden Gewölbe ausbreitet. Die aufgehenden Träger der insgesamt 30 Stützen verflechten sich zu Mustern, die tradierte Bauformen des Moscheebaus aufgreifen, hier aber in moderner Bauweise mit einer vollständig aus Holz bestehenden Konstruktion verwirklicht wurden.

Der Neubau der Großmoschee in der Mill Road von Cambridge entstand in 10jähriger Planungs- und Bauzeit nach dem Entwurf von Marks Barfield Architects, die aus dem 2009 ausgerufenen Wettbewerb als Sieger hervorgegangen waren. Das Londoner Büro Marks Barfield Architects, das unter anderem auch für das London Eye verantwortlich zeichnet, entwickelte das Motiv einer ruhigen Oase der Kontemplation inmitten eines Baumhains, inspiriert von dem Bild des Paradiesgartens – mit einem Wasserspiel als Symbol für die Quelle allen Lebens. „Wir stellten uns das Gelände als einen Baumhain vor, der die Gemeinde für einen sanften Diskurs im Schatten der Bäume zusammenbringt,“ erläuterte der 2017 verstorbene Moschee-Architekt David Marks seine Entwurfsgedanken.

Erste ökologische Moschee Europas

Der Grundriss erlaubt einen fließenden Übergang vom öffentlichen Raum zu den Gebetsräumen, Besucher betreten diese über eine Gartenanlage. Basierend auf einem Grundrissraster von 8.10 x 8.10 m leitet ein Portikus die Gläubigen in ein halböffentliches Atrium mit Café, von dem sich die für die Ausrichtung nach Mekka leicht aus der Achse gedrehte Gebetshalle erschließt.

Die von der Spezialistin für islamische Gärten Emma Clark und den Landschaftsarchitekten Urquhart & Hunt gestalteten Naturgärten fungieren als Bindeglied zwischen der englischen und der muslimischen Kultur. Der Fokus auf die Natur beeinflusste auch andere Aspekte des Gebäudekonzepts wie die klimaneutrale Holzbauweise, die – in Verbindung mit photovoltaischer Energieproduktion und Regenwasserspeichern – die Bezeichnung als erste ökologische Moschee Europas rechtfertigt. Nachhaltigkeit und Klimaschutz stehen hier für das tief in der Religion wurzelnde Verständnis des Menschen als Hüter der Schöpfung. Tatsächlich besteht die komplette Konstruktion der Moschee aus Holz, oberhalb der Tiefgarage wurde das Projekt vollständig aus vorgefertigten Holzbauteilen errichtet. Die in jeder Hinsicht europäisch geprägte Bauweise und Materialität verbindet sich mit der traditionellen, vom Islam inspirierten Formensprache zu einem harmonischen Ganzen.

Gittergewölbe aus traditioneller Ornamentik

Ihren Kulminationspunkt findet das Miteinander beider Welten in dem Dachtragwerk aus freigeformten Baumstützen, das den Raumeindruck sowohl im rund 8,50 m hohen Gebetssaal als auch im etwas niedrigeren Eingangsbereich prägt. Die aufgehenden und sich miteinander verflechtenden „Äste“ bilden das tragende Gewölbe und erzeugen zugleich eine atemberaubende Raumatmosphäre des Beschirmt- und Geborgenseins für die rund tausend Gläubige fassende Moschee.

Für die komplexe islamische Ornamentik der Baumstützen arbeiteten Marks Barfield Architects mit Professor Keith Crichtlow zusammen, einem Experten für sakrale Architektur und islamische Geometrie. Er zeichnete die Leitgeometrie für die Moschee, genannt „Der Atem des barmherzigen Musters“ – sie basiert auf traditionellen Achteckstrukturen und symbolisiert den Rhythmus des Lebens. Das Ziel war, die speziell für diese Moschee entworfene Geometrie zu einem integralen Bestandteil der Architektur werden zu lassen. Dazu wurden die Handzeichnungen von Crichtlow mithilfe von 3D-Computermodellen auf die dreidimensionale Fläche des Fächergewölbes projiziert und alternative Achtecke in Struktursäulen oder „Stämme“ umgewandelt. Insgesamt entstanden so 30 „Bäume“, 12 über dem Atrium, dem Café und dem Lehrraum, weitere 16 über dem Gebetsraum und zwei über dem Nordportikus. Der Gesamteindruck, den diese Architektur erzeugt, ist geprägt von Ruhe, Stille, Stabilität und Konzentration.

Parametrisches Digitalmodell für das Freiform-Tragwerk

Die sich aus der geometrischen Struktur ergebenden Rundungen und Verschlingungen des Flächentragwerks wurden im Sinne des Konzepts der „ökologischen Moschee“ vom Free Form-Team der Blumer-Lehmann AG komplett aus mehrfach gekrümmten Fichten-Brettschichtholzträgern hergestellt. Der Schweizer Holzbauspezialist hatte die Architekten bereits in der Entwicklungsphase beraten und unterstützt, ehe das Unternehmen 2016 nach einer Ausschreibung endgültig den Auftrag für Holzbauplanung, Produktion und Montage der gesamten Cambridge Mosque erhielt. Der Auftrag beinhaltete neben der anspruchsvollen holzbautechnischen Umsetzung auch die Lösung der logistischen Herausforderungen, denn die Bauteile des Tragwerks sowie alle Wände, Dächer und Decken wurden im Schweizer Werk vorgefertigt und mussten nach einem genau getakteten Zeitplan per Lkw und Fähre nach England gebracht werden.

Gerade das Urwüchsige und scheinbar Wilde des Dachtragwerks erforderte ein hohes Maß an Ordnung und Organisation. Blumer-Lehmann AG beauftragte deshalb die Digitalisierungsexperten von Design-to-Production (D2P) mit der Entwicklung eines detaillierten, parametrischen CAD-Modells der Holzkonstruktion. Ausgehend von den Entwurfszeichnungen der Architekten entstand so in enger Zusammenarbeit von Blumer Lehmann, D2P sowie den Ingenieuren von SJB Kempter-Fitze das komplett digitalisierte Vorfertigungs- und Montagekonzept der Konstruktion.

„Wir haben die Form so modelliert, dass der Gewölbeschub an jeder Stelle optimal ausgenutzt werden kann, was vergleichsweise kleine und vor allem an jeder Stelle gleiche Trägerquerschnitte von 160 × 250 mm ermöglichte“, erläutert Johannes Kuhnen von D2P die Herangehensweise. „Gleichzeitig konnte die Rotationssymmetrie der Trägersegmente rund um die Stützen gewahrt werden, wodurch sich in der Produktion die Zahl der Gleichteile erhöht und trotz der freien Form eine Fertigung mit rationellen Losgrößen möglich wurde.“ Auf diese Weise ließen sich die insgesamt 2.746 Segmente auf nur 145 unterschiedliche Bauteiltypen reduzieren, die ihrerseits auf nur 23 verschiedene Typen von Brettschichtholz-Rohlingen basieren.

Diese Rohlinge hatten es allerdings in sich, wie Jephtha Schaffner, Projektleiter bei Blumer-Lehmann, erklärt: „Wir haben mit geraden, aber auch mit einfach und sogar zweifach gekrümmten Ausgangselementen gearbeitet, die alle 5-achsig gefräst wurden. Das erforderte eine sorgfältige Produktionsstrategie und vor allem eine Weiterentwicklung unserer Software, die wir in Teilen quasi neu geschrieben haben.“ Sorgfältig zu planen waren außerdem die Verbindungen der Segmente in der komplexen Tragwerkstruktur. In extrem gekrümmten Bereichen musste das Einfahren der Blattverbindungen vorab digital simuliert werden, um die Geometrie der Montagesequenz zu überprüfen.

Logistik als Schlüssel für reibungslose Montage

Insgesamt 80 Lastwagenladungen mit knapp 3.800 einzelnen Bauelementen legten die Reise von Gossau im Kanton St. Gallen ins rund 1.500 km entfernte Cambridge zurück. „Die reibungslose Organisation und in der Folge die Montage ohne jede Unterbrechung ist in unseren Augen neben der beeindruckenden Technologie und Architektur ein wesentlicher Teil des Erfolgs. Dies war die Voraussetzung für die nur ein knappes halbes Jahr dauernde Bauphase der gesamten Holzkonstruktion“, resümiert Jephtha Schaffner.

Während die aufgehenden Stützen aus nur wenigen, weitgehend vormontierten Einzelteilen bestehen, waren für die verflochtenen Flächengewölbe etwa 70 bis 80 Holzteile am Boden zusammenzusetzen und zu verschrauben, die dann wie eine Krone mit einem Kranhub zum Einbauort gehoben wurden. Für den Zusammenbau lagen aus dem parametrischen Modell abgeleitete Montagepläne vor. Sie beruhten auf einer exakt geplanten Nummerierung aller Einzelteile, die zu einer logischen Montagefolge führte. Wegen der Rotationssymmetrie rund um die 30 baumartigen Stützen wiederholten sich die Abläufe, was die Arbeiten beschleunigte. Besondere Sorgfalt verlangte vor allem die Auswahl des jeweils richtigen Verbindungsmittels – insgesamt waren rund 39.000 Schraubverbindungen verschiedenster Art und Dimension zu berücksichtigen.

Kuppel und Oberlichter für Tageslicht von oben

In dem Gebetssaal mit seinen 16 Stützen in harmonischer 4 x 4 Anordnung ordneten die Architekten für die natürliche Beleuchtung des Raums mit Tageslicht über jeder der aufgehenden Stützen ein Oberlicht an. Der Lichteinfall von oben verleiht dem Tragwerk eine kontrastreiche, fast grafische Wirkung und sorgt dafür, dass tagsüber keine künstliche Beleuchtung nötig ist.

Gekrönt wird der Saal von einem weithin sichtbaren, 9 m hohen Dom mit einer vergoldeten Kuppel, der von Blumer Lehmann am Boden montiert und dann mit dem Kran auf die Deckenkonstruktion gehoben wurde. Die seitlich an den Dom anschließenden rund 2.000 m² großen Flachdachbereiche entstanden als Holz-Rippendecken, die Außen- und Innenwände überwiegend als Holzrahmenkonstruktionen. Den raumseitigen Abschluss bilden Dreischichtplatten, die einen weißen Brandschutzanstrich erhielten und im Innenraum eine helle und einladende Atmosphäre erzeugen. In den Baukörper integriert sind außerdem drei Treppen sowie zwei Wohnungen, die mit Brettsperrholzwänden und -decken ausgeführt wurden.

Die Fassade der Moschee durchbricht den Materialkanon des Holzes mit einer kleinteilig strukturierten Klinkerhaut. Die Verkleidung mit den „mathematischen Kacheln“ zitieren sowohl lokale Bautechniken wie islamische Traditionen. Die Backsteinfliesen in der hellen Buff-Farbe des Cambridgeshire-Ziegels formen ein quadratisches Relief – ein sogenanntes Square Kufic. Die damit gebildeten arabischen Kalligrafien formen den Satz: „Sag, er ist Gott, der Eine.“

Referenzen

Cambridge, Cambridgeshire, East of England, England, Großbritannien (2019)

Bauwerkskategorien

  • Über diese
    Datenseite
  • Product-ID
    7650
  • Veröffentlicht am:
    05.08.2019
  • Geändert am:
    27.09.2019