Lawinendamm aus geotextilbewehrter Erde schützt Kappl-Paznaun
In den Jahren 2004 bis 2010 wurde im Bereich der Durrichalpe im Norden von Kappl im Auftrag des Forsttechnischen Dienstes für Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Oberes Inntal, ein bis zu 26,5 m hoher und 640 m langer Lawinenauffangdamm aus einem mit Geogittern bewehrten Schüttkörper errichtet. Damit entstand im Tiroler Paznauntal auf einer Seehöhe von 2.200 m der größte Lawinendamm im alpinen Gelände.
Der Damm nützt einen relativ flachen Almboden direkt oberhalb der Schluchtstrecke des Diasbaches zur Optimierung des Fallbodenvolumens. Das Lawinenauffangvolumen des Dammes beträgt ca. 1 Millionen m³, das entsprechende Lawineneinzugsgebiet umfasst eine Fläche von 2,4 km². Durch den gewählten Dammstandort am Ausgang des Gebirgskessels und die gewählte Konstruktion konnten mehrere kleine Lawinendämme zu einem großen Damm mit hohem Wirkungsgrad zusammengefasst werden. Ab dem Winter 2010 wird die Wintersportgemeinde Kappl vor den gefährlichen Abgängen der Diasbachlawine aus dem Anbruchgebiet zwischen der Hohen Spitze im Westen und dem Rifflakopf im Osten geschützt.
Eine wesentliche Konstruktionsbedingung eines Lawinendammes ist die steile lawinenseitige Dammböschung. Nur dadurch können Staublawinen wirksam entschärft werden. Für die Errichtung des örtlich 26,5 m hohen Lawinenauffangdammes Diasbach bestand somit praktisch nur die Möglichkeit, die bergseitige, unter 2:1 (63°) geneigte Dammböschung mit Hilfe einer Bewehrten-Erde-Konstruktion zu sichern. Der Damm umfasst insgesamt eine Schüttkubatur von 400.000 m³, der durch Geogitter bewehrte Schüttkörper kann mit 150.000 m³ angegeben werden. Insgesamt 285.000 m² Geogitter wurden in Schüttlagen von 60 cm eingebaut. Die 63° steile, bergseitige Dammoberfläche erhält ihre Form durch eine verlorene Schalung aus verzinkten Bewehrungsmatten.
Lawinenschutz für Kappl
Der Ort Kappl im Paznaun/Tirol wird durch den tief ins Gelände eingeschnittenen Diasbach, den sogenannten Diasbachgraben, durchtrennt. In kurzen zeitlichen Abständen werden die Ortsteile um den Diasbach immer wieder durch Muren und Lawinen aus dem Einzugsgebiet des Diasbaches schwer beeinträchtigt. Das letzte große Lawinenereignis fand im März 1988 statt, als die Diasbachlawine als Nassschneelawine niederging und Schäden in den Weilern Diasbach und Lochau verursachte. Bild 2 zeigt die Gemeinde Kappl im Paznaun, den Diasbach, das Einzugsgebiet und die Lage des Dammes.
Im Jahr 1999 wurde von der Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Oberes Inntal in Imst, nach eingehender Untersuchung die Entscheidung gefällt, das Anbruchgebiet direkt oberhalb der Schluchtstrecke des Diasbaches mit einem großen Lawinenauffangdamm zu verbauen. Alternative Lösungen, wie die Errichtung einer großflächigen Anbruchverbauung oder mehrerer kleiner Lawinendämme, hätten einerseits einen größeren Eingriff in die Natur bedeutet und wären andererseits mit wesentlich höheren Errichtungskosten verbunden gewesen. Auch die verbleibende Wirksamkeit eines hohen Dammes bei einer Teilverfüllung des Fallbodens wirkte sich positiv auf die Entscheidung zu Gunsten des hohen, lang gestreckten Dammes aus. Das bewilligte Projekt sah vor, dass ein großer Lawinenauffangdamm mit einer Höhe bis 26,5 m, einer Länge von 640 m mit einem Schüttvolumen von 400.000 m³ auf dem Almbodens der Durrichalpe errichtet wird. Das Auffangvolumen im Fallboden bergseitig des Dammes ergab sich mit ca. 1 Millionen m³ Schnee.
Die Errichtung eines großen Auffangdammes im alpinen Gelände mit sehr jungen Gesteinsablagerungen und unter extremen Witterungsbedingungen bedeutete eine hohe Anforderung an die Erkundung des Untergrundes, die Planung, die Wasserableitung und die Errichtung des Dammes selbst. Die beengten Platzverhältnisse am Übergang des etwas flacheren Kessels, der sich von der Hohen Spitze im Westen bis zum Rifflakopf im Osten erstreckt, zur Schluchtstrecke des Diasbaches und besonders die Forderung nach einer möglichst steilen bergseitigen Dammböschung, die ein Überströmen des Dammes durch die Lawine verhindert, führten zur Konstruktion eines geotextilbewehrten Auffangdammes. Nur durch die Anordnung einer Bewehrung war die Ausführung einer unter 2:1 (63°) geneigten Bergseite des Dammes möglich. 2003 wurden die Aufschlussarbeiten durchgeführt, die Jahre 2003 bis 2005 dienten der Planung und Ausschreibung. 2004 erfolgten die Erschließung der Baustelle und die Vorbereitung der Dammaufstandsfläche. In den Jahren 2006 bis 2010 wurde der Damm auf einer Seehöhe von 2200 m durch die Streng Bau GmbH mit Sitz in Landeck als geotextilbewehrter Schüttkörper errichtet. Die Gebietsbauleitung Oberes Inntal der Wildbach- und Lawinenverbauung beaufsichtigte die Bauarbeiten, die geotechnische Beratung und Planung erfolgte durch das Büro Geotechnik Henzinger ZT in Grinzens. Die Fa. Tencate Linz unterstützte die Planung und Ausführung durch Fachberatung.
Geologie und Untergrund, Geotechnik
Das Projektgebiet liegt innerhalb des Silvrettakristallins. Der Festgesteinsrahmen besteht aus verschiedenen Gneisen, Glimmerschiefern und Phylliten mit steil stehenden Faltenachsen eines Großfaltenbaues. Die rezente Bedeckung des Festgesteins im Projektgebiet besteht aus einer Vielzahl von Sedimenttypen. Örtlich und schichtweise werden stark durchlässige Blocksturz- und Hangschuttablagerungen durch lokale Moränen überlagert. Dadurch entstehen besonders im Frühjahr konzentrierte unterirdische Abflüsse mit massiven Quellaustritten im steilen Gelände. Oberflächenerosion und auf Wasseraustritte begrenzte Rutschungen sind die Folge und betreffen auch das Projektgebiet. Dieser für das Hochgebirge typische, nicht unproblematische Lockergesteinsaufbau war in der Planung zu berücksichtigen .
2003 wurde der Untergrund mit 11 Bohrungen aufgeschlossen. Oberflächennah wurden überwiegend Seiten- und Grundmoränen mit einem Feinkorngehalt von 20 bis 30 % erkundet. Die Lagerungsdichte der Moräne kann als dicht bis sehr dicht angegeben werden.
Für den Damm mit einem Schüttvolumen von 400.000 m³ ist die Verwendung des örtlich zu gewinnenden Materials natürlich Grundvoraussetzung. Das heißt, das weitgestufte Moränenmaterial mit hohem Feinkorngehalt war primär als Dammschüttmaterial zu verwenden. Maßnahmen zum Abbau von Porenwasserdruck im feinkörnigen Schüttmaterial, wie z.B. der Einbau durchlässiger Schichten in die Dammschüttung – Sandwichbauweise –, waren in Hinblick auf möglichst flexible Anwendung einzuplanen. Besonderes Augenmerk wurde auf die saubere Entwässerung der Dammaufstandsfläche gelegt. Flächenfilter aus gebrochenem Fels und tausende Meter Dränagerohre gewährleisten die durchgehende Dränagierung der Aufstandfläche und damit wesentlich die Standsicherheit des Gesamtbauwerkes.
Die Gewinnung großer Mengen von Flussbausteinen zur Sicherung der Gerinne und des Dammfußes und die Aufbereitung ausreichender Massen an Filterkies und gebrochenem Felsabtrag waren Grundvoraussetzung für eine sichere Errichtung des Dammes und der Abtragböschungen.
Konstruktion des Lawinendamm
Die Größe und Form des Dammes war durch die Berechnungen des Forsttechnischen Dienstes für Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Oberes Inntal, vorgegeben. Das Ergebnis der Lawinensimulation und der wirtschaftlichen Betrachtungen ergab einen 640 m langen Damm mit wirksamen Höhen zum Fallboden bis 26,5 m.
Die Vorgabe der Dammneigung von 63° an der Bergseite und die Höhe von 26,5 m erforderte zwingend die Errichtung des Bauwerkes mittels geotextilbewehrter Erde. Erfolgreiche Erfahrungen mit ähnlich hohen geotextilbewehrten Böschungen lagen zum Zeitpunkt des Planungsbeginnes im Jahr 2003 bereits vor, auch anerkannte Berechnungsverfahren standen zur Verfügung. Als erschwerend für die ins Auge gefasste Konstruktion der bewehrten Erde erwiesen sich die Höhenlage des Bauwerkes auf 2200 m, die Orientierung der Dammböschung nach Norden und die Wahrscheinlichkeit, dass Lawinenschnee über viele Monate im Fallboden verbleibt. Diese Bedingungen verzögern die Entwicklung des Bewuchses an der steilen Dammböschung zum Fallboden. Weiters war damit zu rechnen, dass am dammseitigen Fuß des Fallbodens, der wie eine große Entwässerungsrinne wirkt, große Wassermengen abfließen können.
Im Wesentlichen wurde der angesprochenen Problematik mit zwei konstruktiven Maßnahmen begegnet. Bis auf eine Höhe von sichtbar 4 bis 5 m über dem Fallboden wurde eine 2,5 m starke Steinschlichtung aus schweren Wasserbausteinen errichtet. Diese Steinschlichtung reicht 1,5 m unter die Fallbodensohle und erhielt an der Krone der Steinschlichtung zur Aufnahme der Spreizkräfte ein Zugband aus schwerem Geotextil. Die zweite Maßnahme betraf das formgebende Schalungsgitter aus gebogenen Bewehrungsmatten, welches verstärkt und zusätzlich verzinkt zur Erhöhung der Dauerhaftigkeit ausgeführt wurde. Bild 3 zeigt den Damm in der gesamten Längserstreckung etwa auf der Höhe der Steinschlichtung auf der Damminnenseite. Auf dieser Höhe wurde der geotextilbewehrte Damm aufgesetzt. Bild 4 zeigt den Hauptquerschnitt mit der Steinschlichtung und den abgestuften Bewehrungslagen.
Die EU-weite Ausschreibung der Bauarbeiten in einem offenen Verfahren hat ergeben, dass im Wesentlichen das System Polyslope S der Fa. Tencate zur Bewehrung des Schüttkörpers zur Ausführung gelangte. Die Änderungen gegenüber dem im Produktblatt von Tencate dokumentierten System betrafen einerseits die formgebende Stahlgitterschalung, welche zur Erhöhung der Dauerhaftigkeit verzinkt ausgeführt wurde. Andererseits wurde vom ausgeschriebenen System gefordert, dass die Geogitter an der Frontseite umgeschlagen werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass keinesfalls aufgrund zu wenig weit an die Böschungsoberfläche reichender Bewehrungslagen ein Herauskippen der Stahlgitterschalung auftreten kann. Die Berechnung der Querschnitte hat ergeben, dass im höchsten Querschnitt vier Geogittertypen mit unterschiedlichen Längen eingebaut werden mussten. Längen von 9 bis 14 m ab der bergseitigen Böschungsoberfläche waren erforderlich. Die Geogitter in den untersten Lagen über der Steinschlichtung weisen eine charakteristische Kurzzeitzugfestigkeit von 150 kN/m auf. Mit der Schütthöhe nimmt die geforderte Kurzzeitfestigkeit schrittweise auf 110 kN/m, 80 kN/m und 55 kN/m in Kronennähe ab. Die Einbauschichthöhe betrug 60 cm. Als Geogitter mussten hochzugfeste Polyestergarne mit polymerer Schutzbeschichtung eingebaut werden. Nur für diese Geogitter erschien ein ausreichender Verbund zwischen dem Schüttmaterial und der Bewehrungslage gegeben.
Bauausführung
Die Streng Bau GmbH, Landeck, führte die Erdarbeiten über einen Zeitraum von vier Jahren von 2007 bis 2010 aus. Aufgrund der ungünstigen Witterung in den Sommermonaten, besonders in den Jahren 2009 und 2010, des witterungsempfindlichen Schüttmaterials und der kurzen Bauzeit im Hochgebirge konnte keine hohe Schüttleistung erreicht werden. Auch der mit zunehmender Höhe immer schmaler werdende Damm bei gleichzeitigem Einbau der Bewehrung erschwerte den Schüttvorgang.
Begrünung der Geogitterböschung
Die dauerhafte Bepflanzung der steilen nordseitig ausgerichteten Gitterböschung auf der Höhe von 2200 m stellt natürlich eine große Herausforderung an die Bepflanzung und die weitere Pflege des Bewuchses dar. Als Grundlage zur Entstehung eines dauerhaften Bewuchses wurde hinter der Frontausbildung bestehend aus der Stahlgitterschalung, einem Erosionsschutzgitter auf Glasfaserbasis und dem Bewehrungsgitter organischer Boden in einer Dicke von ca. 0,3 m verdichtet eingebaut.
Die sofortige Begrünung als Erosionsschutz der Dammoberfläche erfolgte im Bereich der Stahlgitterwinkel laufend mittels Saatkanone. Ein Gemisch aus einer standortgerechten Samenmischung, Dünger, Torf und Kleber wurde aufgespritzt. Die Erprobung auf Versuchsfeldern am Standort war Grundlage der Auswahl. Zur langfristigen Stabilisierung der 2:1 steilen Böschung wurden in die Stahlgitterwinkel Grünerlen in einem engen Raster (0,6 m x 1,0 m) eingepflanzt. Auf der talseitig 2:3 geneigten Dammböschung wurden die im Zuge des Abtrages gewonnenen Rasenziegel Schritt für Schritt aufgetragen.
Literatur
[1] Henzinger, J.; Posch, M.; Pöll, H.: Diasbachlawine gezähmt – 26,6 m hoher geotextilbewehrter Damm schützt Kappl, 12. Informations- und Vortragsveranstaltung über "Kunststoffe in der Geotechnik", München, März 2011. [2] Produktkatalog Geokunststoffe, Tencate Geosynthetics Austria GmbH, Linz
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6051 - Veröffentlicht am:
02.10.2012 - Geändert am:
03.03.2020