High-Tech-Brücke mit Flachs gebaut
Ein altes Material wird gerade neu entdeckt: Flachs begleitet uns seit Jahrtausenden in Form von Kleidungsstücken, Säcken oder robusten Schiffstauen. Jetzt erlebt die alte Kulturpflanze eine Renaissance und könnte zum Baustoff der Zukunft werden. Kombiniert mit einem speziellen Bioharz entsteht aus ihr ein leichter und hochstabiler Werkstoff, der in seinen Eigenschaften etwa mit Aluminium oder Stahl vergleichbar ist. Was mit dem neuen Hoffnungsträger bereits möglich ist, zeigt das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“: Eine erste Brücke aus diesem sogenannten Bioverbundwerkstoff wurde gerade gebaut, zwei weitere sollen folgen.
In Zeiten von Klimawandel und schwindenden Rohstoffen bieten solche Werkstoffe eine große Chance für die Bauwirtschaft mit ihrem großen CO2-Fußabdruck und immensen Ressourcenverbrauch. Sie bergen ein enormes Potential für eine bio-basierte Kreislaufwirtschaft, zumal Flachs im Gegensatz etwa zu Holz eine schnell wachsende Pflanze ist.
Interdisziplinäre Teams treiben Entwicklung voran
Die erste „Smart Circular Bridge“ mit einer Spannweite von 15 Metern wurde von einem interdisziplinären Konsortium aus 15 Partnern unter Führung der Technischen Universität Eindhoven realisiert. Das Projektteam besteht aus fünf Universitäten, sieben innovativen Unternehmen und drei Städten. Die erste Brücke wurde jetzt auf der internationalen Gartenbauausstellung Floriade in Almere (Niederlande) errichtet, sie wird am 22. April eingeweiht. Zwei weitere "Smart Circular Bridges" für Fußgänger und Radfahrer werden in Ulm (Deutschland) und Bergen op Zoom (Niederlande) im Jahr 2022 bzw. 2023 gebaut. Durch diese intensive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Industrie und lokalen Behörden wird eine Vielzahl von Innovationen auf den Weg gebracht.
Neben den zu 100 Prozent natürlichen Flachsfasern soll auch das Harz so weit wie möglich aus nicht-fossilen Quellen stammen. Der Anteil des Bioharzes beträgt beim ersten Bauwerk 25 %, doch schon bei der nächsten Brücke soll er auf 60 % steigen – durch den Einsatz von Abfall-Produkten der Bio-Diesel-Herstellung sowie chemisch recycelten PET-Flaschen.
Beschleunigung der Materialforschung mit KI
Bioverbundwerkstoffe sind für die Baubranche eine große Chance, doch noch ist eine intensive Forschungsarbeit nötig. Deshalb werden die Brücken systematisch in Echtzeit überwacht. Knapp 100 Sensoren liefern Daten zum Materialverhalten im Alltag. Wie verhält sich das Bauwerk, wenn 200 Menschen zeitgleich darüber laufen? Was geschieht zu verschiedenen Jahreszeiten, bei Sturm, Hagel und Schnee? Wie verläuft der Alterungsprozess des Materials im Detail?
Ein Structural Health Monitoring System mit optischen Glasfaser-Sensoren in der Brücke liefert Informationen über Verformungen und Beschleunigungssensoren erfassen selbst feinste Schwingungen, die etwa durch Wind entstehen. Die Auswertung der Daten von den Sensoren erfolgt mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, um Muster im Materialverhalten zu erkennen. Diese Daten können in einem Dashboard auf einer öffentlichen Website eingesehen werden (dashboard.smartcircularbridge.eu/). Gleichzeitig können die Ingenieure ihre Berechnungs- und Materialmodelle mit diesen Daten verfeinern. Auf dieser Grundlage lassen sich die Konstruktionen für die nächsten Brücken und viele weitere Anwendungen einfacher entwickeln. Aktuell forschen Teams bereits an Säulen und Fassaden-Elementen. Denkbar sind auch Rotorblätter von Windkrafträdern.
Lebensende von Anfang an im Blick
Mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft untersucht das Projekt, welche Optionen sich für den Baustoff ergeben, wenn die Brücken nach vielen Jahrzehnten das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht haben. Derzeit sind drei Möglichkeiten denkbar: mechanisches, chemisches und sogar biologisches Recycling mit Pilzen. Wichtig ist, dass die Nutzungskaskade des Materials so lange wie möglich anhält. Um dies zu erreichen, müssen die End-of-Life-Optionen bereits zu Beginn des Projekts berücksichtigt werden.
Das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“ zeigt weit mehr als Brücken-Konstruktionen. Es ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Innovationen für den Klimawandel erfolgreich auf den Weg gebracht werden. Es lohnt sich über alternative Werkstoffe nachzudenken. Denn allein bei den Brücken gilt es in den nächsten Jahren in Europa Zehntausende zu ersetzen.
Allein bei den Brücken lohnt es sich über alternative Werkstoffe nachzudenken, denn in den nächsten Jahren müssen in Europa Zehntausende ersetzt werden.
Statement der Projektleitung:
„Die Werkstoffe haben eine große Zukunft“, beschreibt Projektleiter Professor Rijk Blok von der TU Eindhoven die Aufbruchsstimmung nach der Halbzeit des Projekts. „Gerade die intensive Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Gemeinden hat der Materialentwicklung einen großen Schub gegeben“.
„Die aktuellen Ergebnisse stimmen optimistisch: Wir gehen davon aus, dass wir in Zukunft Brücken mit deutlich größeren Spannweiten und höheren Belastungen bauen werden“, sagt Professor Dr. Patrick Teuffel von der TU Eindhoven.
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16.05.2022 - Geändert am:
16.05.2022